DER HEILIGE AEGIDIUS

Die Wunde offen halten

 

Aegidius ist der einzige Nothelfer, der nicht den Märtyrertod gestorben ist. Sein Name kommt aus dem Griechischen und heißt "Schildträger". Die Legenda aurea deutet seinen Namen jedoch ganz anders: Aegidius kommt von e, das heißt ohne; und geos: Erde; und dyan: leuchtend, oder: göttlich. Denn er war ohne Erde, da er das Irdische verschmähte; er war leuchtend In großer Weisheit; göttlich durch die Liebe, die den Liebendendem Geliebten gleich macht." (Legenda aurea 666) Aegidius ist einer der volkstümlichsten Heiligen. "Seine Fürbitte wird angerufen bei Aussatz, Krebs, Irrsinn, ehelicher Unfruchtbarkeit, bei Dürre, Sturm, Feuersbrunst, Unglück. Menschenfurcht, in großer geistiger Not und Verlassenheit, für eine gute Beichte, von stillenden Müttern, von Krüppeln." (Melchers 557) Sein Fest wird am 1. September gefeiert. Gestorben ist er um das Jahr 720 in Gallien. Dargestellt wird er oft im Benediktinerhabit, manchmal auch mit Mitra. Er trägt oft ein Buch in der Hand als Zeichen für die Regel, nach der er gelebt hat. Manchmal trägt er auch einen Abtsstab. Immer wird er dargestellt mit der Hirschkuh, die bei ihm Schutz sucht. Manchmal steckt auch ein Pfeil in seiner Brust oder in seinem Schenkel, Jörg Riemenschneider hat ihn mit dem Buch in der Hand dargestellt und mit der Hindin, die seine Hand leckt, als Zeichen dafür, daß sie sich von ihm umsorgt und geschützt weiß. Sein Gesicht ist nach innen gekehrt, Bild für den Einsiedler, der in der Meditation Gottsucht.

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Nach der Legende war Aegidius Grieche und stammte aus Athen. An der Rhonemündung lebte er in der Einsamkeit, an einer Stelle, die mit Sträuchern und Bäumen dicht bedeckt war. Eine Hirschkuh brachte ihm täglich Milch und nährte ihn so. Auf einer Jagd kam der Gotenkönig Flavius vorbei und sah die Hirschkuh. Von den Hunden des Königs verfolgt suchte sie bei Aegidius Zuflucht und legte sich zu seinen Füßen. Die Hunde konnten nicht näher als einen Steinwurf an sie herankommen. Dann mussten sie wieder umkehren. Als man das dem König berichtete, merkte er, dass das nicht mit rechten Dingen zuginge. So kam er mit dem Bischof von Nimes, um der Sache nachzugehen. Als nun die Hunde wieder unverrichteter Dinge zurückkamen, schoss ein Jäger einen Pfeil, um das Tier herauszulocken. Damit traf er Aegidius am Schenkel und verwundete ihn schwer. Als die Jäger durch das Gebüsch vordrangen, fanden sie Aegidius aus der Wunde blutend dasitzen und zu seinen Füßen die Hirschkuh. König und Bischof gingen auf ihn zu und fragten, wer er sei.

Er erklärte ihnen den Grund seines Hierseins und seiner Wunde. Da baten sie ihn um Verzeihung und versprachen ihm, einen Arzt zu schicken. Doch Aegidius lehnte dies ab, er brauche für seine Wunde keine irdische Arznei. Er bat Gott, dass die Wunde bis zu seinem Tode bliebe, damit Gottes Gnade in seiner Schwachheit vollendet würde. So blieb er verwundet bis zu seinem Lebensende.

Die Legende zeigt in schönen Bildern den spirituellen Weg der uns zugleich auch zum wahren Selbst führt. Aegidius wird von einer Hirschkuh mit Milch genährt. Er hat also eine positive Beziehung zu seiner Vitalität. In der Einsamkeit ist er nicht allein, sondern die mütterliche Hirschkuh ist bei ihm und nährt ihn. Die Tiere sind in den Märchen immer Bilder für die Vitalität und Sexualität und für den Bereich der Instinkte und der Natur. Das geistliche Leben hat Aegidius der Natur nicht entfremdet, sondern ihn in Einklang mit ihr und mit ihrer schöpferischen und nährenden Kraft gebracht. Milch ist ein Bild der Unschuld. Und sie ist göttliche Speise. Die göttliche Speise wird ihm durch ein Tier gereicht. Das zeigt die Einheit von Geist und Trieb, von Gott und Schöpfung, von Vitalität und Spiritualität. Die Hunde, die die Hirschkuh verfolgen, können über den heiligen Bezirk, der um Aegidius unsichtbar gezogen ist, nicht hinaus.

Sie können nicht in den heiligen Raum eindringen, der von Gottes heilender und nährender Gegenwart geprägt ist. Die Hunde stellen oft auch die Weisheit der Natur dar. Hier aber sind es Jagdhunde, die die Hirschkuh reißen wollen. Es ist die aggressive Kraft der Vitalität, die auch zerstörerisch wirken kann. Aber dort, wo Gott in uns wohnt, haben die Hunde keinen Zutritt. Dort sind wir auch im Einklang mit der Vitalität und Sexualität. Dort können die Triebe uns nicht verletzen.

Zwei Nöte sind es, die vor allem mit Aegidius verbunden werden, Aussatz und Krebs und die Bitte um eine gute Beichte. Bei Krebs wird er offenbar angerufen wegen seiner offenen Wunde, die er bis zu seinen Tod behalten wollte um immer von neuem an Gottes Gnade erinnert zu werden. Krebs ist heute die Krankheit, vor der die meisten Menschen Angst haben. Denn es ist eine heimtückische Krankheit, die jeden befallen kann. Und oft genug weiß man nicht, woher sie kommt. Es gibt viele Erklärungsversuche, angefangen von den Einflüssen der Ernährung, der Umwelt, des Rauchens, bis hin zu psychologischen Theorien, dass Krebs manchmal verdrängter Groll sein kann. Aber alle Erklärungsversuche können uns nicht vor dem Krebs schützen. Es ist kein Kraut gegen Krebs gewachsen. Wir können noch so im Einklang mit uns leben, wie es der Einsiedler Aegidius getan hat. Wir sind trotzdem nicht vor dem Pfeil geschützt, der in der Legende von einem Jäger aus Versehen abgeschossen wird. Die Botschaft, die uns Aegidius sagen will, lautet, dass uns auch die Wunde des Krebses nicht von Gott trennen kann. Aegidius ist auch mit seiner Wunde im Einklang mit Gott und im Frieden mit sich selbst. Entscheidend ist, dass wir uns mit unserer Wunde des Krebses Gott hinhalten. Gott kann uns - wie es die Legende in manchen Fassungen sagt - eine himmlische Arznei schicken, die die Wunde heilt. Er kann aber auch die Wunde offen lassen. Dann soll sie uns immer an Gott erinnern, dem unsere tiefste Sehnsucht gilt.

Wenn uns die Beziehung zu Gott das Wichtigste in unserem Leben ist, dann ist es nicht mehr so wichtig, ob wir krank oder gesund sind, dann relativiert sich die Wunde des Krebses. Wir sind auch verwundet ganz und gar auf Gott gerichtet. Ja, die Wunde kann uns sogar für Gott öffnen und uns ständig daran erinnern, dass wir mit unserer ganzen Existenz auf ihn verwiesen sind.

Aegidius will uns lehren, dass wir uns mit unserer Wunde, mit unserer Krankheit, aussöhnen sollen. Die offene Wunde soll uns daran erinnern, dass Gottes Gnade in unserer Schwachheit zur Vollendung kommt. Es ist nicht so wichtig, ob wir gesund oder krank sind, ob wir lange oder nur kurz leben, entscheidend ist, dass wir durchlässig sind für Gottes Gnade und Liebe, dass Gottes Liebe durch uns hindurchscheint. Durch Aegidius ist Gottes Sanftmut und Zärtlichkeit, Gottes Liebe und Menschenfreundlichkeit aufgeleuchtet. Die Menschen waren fasziniert von seiner liebenden Ausstrahlung. Die Wunde hat ihn nicht an dieser Ausstrahlung gehindert, sondern im Gegenteil. Die Wunde hat ihn dafür geöffnet, dass durch alle Poren seines Leibes hindurch Gottes Liebe für die Menschen erfahrbar wurde. Aegidius lädt uns ein, auch unsere Wunde offen zu halten, damit Gottes Gnade in uns einströmen kann, dass Gottes Kraft in unserer Schwachheit zur Vollendung kommt. Die offene Wunde soll uns gerade den Menschen gegenüber öffnen, die zu uns kommen, damit sie durch uns etwas von Gottes Güte und Zärtlichkeit erfahren.

Der Aussatz, bei dem der hl. Aegidius angerufen wurde, weist oft auf das hin, was ein Mensch an Unangenehmen und Unreinem verdrängt hat. Was er nicht wahrhaben will, das tritt in der Haut nach außen. Was er bisher zurückgehalten hat, das durchbricht nun alle Unterdrückung und macht sich auf der Haut sichtbar. So muss er es anschauen. Oft zeigt der Aussatz auch, dass sich jemand nicht annehmen kann. Er möchte anders sein, als er in Wirklichkeit ist. Er möchte all das ausschließen, was mit seinem Selbstbild nicht übereinstimmt. Der hl. Aegidius war mit sich im Einklang. Er hat nicht nur mit sich selbst in Frieden gelebt, sondern auch mit den Tieren. Die Tiere sind immer Symbol für die Triebe, für die Sexualität. Die Akne bei Pubertierenden ist oft Ausdruck ihrer verdrängten Sexualität, die aber nun mit Gewalt nach außen drängt. Aegidius hat sich in seiner Einsamkeit mit allem ausgesöhnt, was er in seinem Innern fand. Er hat auch seine Sexualität in seine Beziehung zu Gott integriert. Das zeigt die Hirschkuh, die bei ihm Zuflucht sucht.

Die Haut ist ein sehr sensibles Organ. Mit ihr nehmen wir Kontakt auf zur Umwelt. Der eine hat ein dickes Fell, der andere eine dünne Haut. Ihm geht alles unter die Haut. Viele leiden heute an Neurodermitis. Sie haben oft Angst, sich den andern mit ihrer Haut zu zeigen, wie sie sind. So haben sie oft Probleme, das für sie angemessene Verhältnis von Nähe und Distanz zu finden. Das Kratzen und Jucken ist oft Ausdruck einer hohen Aggressivität, die sich aber nicht auf andere, sondern auf sich selbst richtet. Oft ist eine Hauterkrankung auch Ausdruck, dass man sich nicht wohl in seiner Haut fühlt. Die Legende des hl. Aegidius gibt eine Antwort auf die Problematik, die Hautkrankheiten anzeigen.

Der Einsiedler fühlt sich wohl in seiner Haut. Er ist mit sich im Einklang. Und er kann sich abgrenzen. Er hat sich ja zurückgezogen und weder der König, noch die Jäger mit ihren Hunden können in den inneren Bereich eindringen. Gott selbst hat einen Schutzbezirk um ihn aufgebaut, in den feindliche Aggressionen nicht vorstoßen können. Das sind die Wege, auf der auch wir Heilung unserer Hautkrankheiten von Gott erhoffen dürfen. Wir wenden uns mit unserer Wunde an Gott. Aber wir lernen auch von Aegidius, was wir selbst tun können, dass wir im Gebet Ja sagen lernen zu allem, was in uns ist, und dass wir im Gebet einen Schutzraum erfahren, den niemand zerstören kann. Aegidius wird von der Hirschkuh genährt. Er erfährt seine Vitalität und Sexualität als nährende Quelle und nicht als feindliche Macht, die er unterdrücken muss. Das ist wohl auch ein entscheidender Weg, uns in unserer Haut wohl fühlen zu können.

Das zweite Thema, das die Menschen seit jeher mit Aegidius verbinden, ist die Bitte um eine gute Beichte. Es ist also das Thema der Schuld. Ob wir wollen oder nicht, wir werden immer wieder in Schuld geraten, so wie der Jäger, der eigentlich die Hirschkuh aus dem Dickicht hervorlocken wollte und mit seinem Pfeil den Heiligen getroffen hat. Heute ist das Thema der Schuld zwar nicht mehr im Mittelpunkt wie etwa zur Zeit Luthers, den die Frage quälte: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Aber die Psychologen erfahren in der Therapie zur Genüge, wie sehr unter der Oberfläche einer schuldfreien Gesellschaft die Menschen doch von Schuldgefühlen geplagt werden. Da sind Schuldgefühle, weil sie andere verletzt haben, weil sie die Erwartungen anderer nicht erfüllt haben, weil sie an sich selbst vorbei gelebt haben. Die Therapie wird zum Ersatz für den Beichtstuhl. Dort wird die Schuld bekannt, die man früher in der Beichte vor Gott gebracht hat. Schuld muss ausgesprochen werden, damit wir damit umgehen können, damit wir sie loslassen können. Wir brauchen die Erfahrung, dass sie uns vergeben wird. Nur dann können wir sie uns selbst vergeben.

Der Jäger, der Aegidius verwundet hat, bittet inständig um Verzeihung. Der Heilige betet auf den Knien, dass dem Jäger seine Schuld nicht angerechnet werde. Er vertieft nicht seine Schuldgefühle. Er macht ihm keine Vorwürfe, sondern er betet für ihn. Von seiner Seelengröße beeindruckt empfehlen sich alle dem Gebet des frommen Mannes. In der Nähe dieses Mannes mit seinem weiten Herzen haben sie den Mut, ihre eigene Schuld einzugestehen. Und zugleich fassen sie das Vertrauen, dass ihre Schuld vergeben sei. Sie fühlen sich wohl in solcher Liebe. Da wissen sie sich angenommen. Die Vergebung meiner Schuld erfahre ich in der Nähe von Menschen, die mich bedingungslos annehmen, die darauf verzichten, mir Moralpredigten zu halten, die vielmehr die bedingungslose Liebe Gottes ausstrahlen und mir so die Gewissheit geben, dass ich mit allem, was in meinem Leben schuldhaft ist, von Gott ganz und gar angenommen bin.

Quelle: Anselm Grün

Die 14 Nothelfer als Bilder einer christlichen Therapie

VIER-TÜRME-VERLAG MÜNSTERSCHWARZACH

ISBN 3-87868-596-3

 

Inhalt

hl. 14 Nothelfer

Stift Ardagger